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Nix wie weg!? Exil Ungarn …

Es war ein heftiger, aber typischer Vorwurf: »Der einzige Grund, weshalb es keine Innovationen mehr gibt in Deutschland, sind Boomer«, verunglimpfte am 21.10.2024 auf X/Twitter Jette Nietzard, Mitte Oktober 2024 neugewählte Bundesvorsitzende der Grünen Jugend, die zwischen 1955 und 1969 Geborenen. »Die sagen, wir haben das immer schon so gemacht und das brauchen wir nicht zu ändern. Das ist der Grund, nicht unsere fucking Generation«. Der Blogger Hadmut Danisch resümierte dazu, ziemlich viele Boomer würden ihm schreiben, »dass sie die Schnauze gestrichen voll haben und sie sich zurückziehen oder ins Ausland gehen«.

Dem Wunsch auszuwandern, die angestammte Heimat zu verlassen, zu neuen Ufern aufzubrechen, liegt – historisch betrachtet – oft das Motiv zugrunde, auswandern zu müssen. Einerseits wegen des Unbehagens angesichts der herrschenden Zustände. Wegen Regulierungswut und Gängelei. Was dann zur freiwilligen, äußeren Emigration (statt zur inneren Emigration) führt. Andererseits wegen erlittener politischer Verfolgung oder wirtschaftlicher Not. In der Tat sehen sich viele deutsche Auswanderer als politische Flüchtlinge an. Ganz gleich, welche Motive im Einzelfall vorliegen: Immer mehr Deutsche kehren ihrer gestressten und gedemütigten Heimat den Rücken. Diejenigen, die so denken und handeln, finden nicht selten ihr vorübergehendes oder endgültiges Exil in Ungarn.

Ungarn – vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen als »Rechtes Paradies« verunglimpft, bietet jenen eine neue Heimstatt, die das zeitgeistig-blindwütige Überbordwerfen aller bewährten gesellschaftlichen, kulturellen, zivilisatorischen und technischen Errungenschaften satthaben. Sie haben die perfiden Herrschaftsstrategien der sogenannten Diversität erkannt – oder zumindest unbewusst erahnt. Dass nicht »Gerechtigkeit« das Ziel ist, sondern die Zerspaltung der Gesellschaft in ihre kleinsten Einzelteile. Damit die Bildung einer homogenen Mehrheit verhindert wird, die einzig noch fähig wäre, fremde Interessen und Machtansprüche zu unterbinden.

Immer mehr deutsche Staatsbürger verzweifeln an einer gegen ihre Lebensinteressen handelnden Politik und Bürokratie. Und an der übergriffigen Bevormundung in allen Lebensbereichen. Sie haben es satt, auf der Straße, im Bus oder in der Metro um ihre körperliche Unversehrtheit bangen zu müssen. Oder auf Schritt und Tritt schwarzbärtigen Jungmännerhorden aus dem Weg gehen zu müssen. Und sie spüren, wie eine mit zweierlei Maß urteilende Justiz und technokratische Klasse sie verachtet. Berufstätige, Freiberufler und Selbstständige zieht es daher ebenso weg wie insbesondere überdurchschnittlich viele Rentner. Denn für nicht wenige von ihnen kommt als existenzielles Motiv hinzu, dass immer mehr von ihnen mit einer Rente auskommen müssen, die in Deutschland zu niedrig zum Leben (und zu hoch zum Sterben) ist. Während die USA nach wie vor das Zielland Nummer eins des sogenannten akademischen Braindrains beruflich Hochqualifizierter sind, hat sich Ungarn zu einem der bevorzugten europäischen Exilländer gemausert, das darüber hinaus nahe gelegen und innerhalb eines Tages mit dem eigenen Auto zu erreichen ist. Zudem sind die kulturellen Unterschiede zwischen Deutschen und Ungarn vernachlässigbar.

Viele Deutsche, interessanterweise aber auch Österreicher, Schweizer oder Niederländer, haben sich bereits um die Jahrtausendwende ganz oder saisonal in Ungarn niedergelassen. Manche kauften sich – spontan – während eines Ungarnurlaubs ein Häuschen. In Schwung kam die jüngste Auswanderungswelle nach dem September 2015 mit der Politik der zahlenmäßig nach oben offenen Besiedlung Deutschlands durch kulturfremde Glücksritter. Während des als Coronapandemie getürkten globalen Ausnahmezustands (zwischen 2020 und 2023) erhöhte sich die Zahl der mitteleuropäischen Auswanderungswilligen spürbar. Während in Deutschland Masken- und Impfskeptiker von der Polizei gejagt und von Nachbarn denunziert wurden, wählten die Ungarn einen pragmatischen zwischenmenschlichen Umgang nach dem Prinzip leben und leben lassen. Niemand beschimpfte Maskenverweigerer, verwehrte ihnen den Zugang zum Supermarkt oder zeigte sie bei der Polizei (Rendőrség) an. Lediglich in den Krankenhäusern wurde die Maskenpflicht konsequent durchgesetzt.

Dass in Ungarn die traditionelle Familie noch etwas gilt und man kaum außereuropäischen Ausländern begegnet, schätzen die deutschen Exilanten, deren Zahl laut Statistischem Bundesamt zum Stichtag 01.01.2023 rund 22.310 Personen umfasste. Nach Medienberichten lebten 2023 um die 15.000 deutsche Rentner rund um den Balaton, die eine monatliche Rente von durchschnittlich 500 Euro aus Deutschland beziehen.

Gleich ob Rentner, Freiberufler oder Berufstätige, ob politische Exilanten oder nicht, sie alle schätzen die Sicherheit in Ungarn. Die Kriminalitätsraten sind gering. Frauen können sich auch nachts allein auf der Straße ungestört fühlen. Lediglich während der Urlaubssaison sind, wie in allen Touristenorten, Taschendiebstähle nicht ganz ausgeschlossen. Dahingegen liegt kaum Müll auf der Straße, der öffentliche Raum ist nicht wie in Deutschland durch Graffiti und Vandalismus verwahrlost; er ist weitgehend sauber und gepflegt. Viktor Orbáns Politik stimmen sie überwiegend zu. Eine Änderung der politischen Großwetterlage befürchten sie nicht. Einen Plan B für die – aus welchen Gründen auch immer notwendige – Rückkehr nach Deutschland, hat niemand in der Tasche oder in der Schublade. Das jedenfalls zeigen die Gespräche mit Auswanderern, die sich beispielsweise in der »Deutschsprachigen Gemeinschaft in Ungarn« (DG) zusammenfinden, die sich rund um den Plattensee (und darüber hinaus) gebildet hat und die ständig weiterwächst. Sie sind mit ihrer Übersiedlung fraglos zufrieden.

Initiator dieser »deutsche(n) rechtsorientierte(n) Community an Auswanderern« und deren Vernetzung ist der aus dem Kanton St. Gallen stammende Schweizer Ignaz Bearth, der in drei Jahren ein Netzwerk von bislang 27 sogenannten Stützpunkten¹ aufgebaut hat. Mindestens zehn weitere sind geplant. Jeder Stützpunkt, der eine Region oder Ortschaft repräsentiert, hat Ansprechpartner, die Hilfsanfragen koordinieren wie auch -angebote jeder Art vermitteln. Über seine Telegram- und Youtube-Kanäle organisiert Bearth vor allem für Menschen aus den deutschsprachigen Ländern Veranstaltungen und Stammtische, die (fast) jeden Donnerstagnachmittag (ab 12 Uhr) an wechselnden Orten stattfinden. Die Termine dieser Treffen werden auf seinem Portal veröffentlicht. Sie sind Anlaufstellen für Ausgewanderte oder Interessenten, die Hilfe benötigen aber auch das Gespräch, soziale Kontakte, das gesellige Beisammensein, die politische Diskussion sowie die Vernetzung untereinander suchen. Denn, daran sei erinnert: Sinn und Zweck jeder oppositionellen Vernetzung ist es, reale, aber auch virtuelle Räume zu schaffen, in denen der autoritäre Staat keine Kontrollmacht ausüben kann.

Doch gegenseitige Hilfe, Unterstützung und Netzwerken gelingt auch darüber hinaus. Die Solidarität untereinander und der Geist gegenseitiger Hilfe ist freilich dem »Diaspora-Effekt« geschuldet, der den Zusammenhalt jeder landsmannschaftlichen Gemeinschaft in jedem beliebigen Ausland prägt.

Galt Ungarn zur Jahrtausendwende noch als Billigland, hat sich dies während der vergangenen Jahre, auch aufgrund der einwanderungsbedingten höheren Nachfrage, geändert. Vorrangig betrifft dies die Immobilien- und Mietkosten. Diese sind in den letzten drei bis vier Jahren teils stark angestiegen. Allerdings gibt es auf dem Land immer noch genügend Angebote. Es gibt Makler, die kleine, abgelegene, aber renovierungsbedürftige Häuschen, beispielsweise zwei Zimmer, 70 Quadratmeter Wohnfläche, schon ab 19.000 Euro im Angebot führen. Seriöser sind Offerten für ältere (Bauern-) Häuser mit guter Grundsubstanz ab 30.000 bis 40.000 Euro², die meistens ebenfalls einer umfassenderen Sanierung bedürfen. Die wesentlichen Nebenkosten wie Strom, Gas, Wasser und Telekommunikation (Telefon, Internet) belaufen sich für das eigene Häuschen auf durchschnittlich 70 Euro im Monat. Die Energiepreise für die privaten Haushalte zählen zu den günstigsten in Europa. Die Anzahl derjenigen, die sich eine eigene Immobilie zulegen ist tendenziell größer als die der Mieter. Aber auch für sie, häufig Rentner mit kleiner Kasse, gibt es Angebote. Insgesamt profitiert derjenige mit schmaler Rente durchaus von den im Vergleich zur Heimat geringeren Lebenshaltungskosten. Er kann sich eines Effekts bedienen, der Geo-Arbitrage genannt wird. Geo-Arbitrage meint die Praxis, in einer Region mit niedrigeren Lebenshaltungskosten zu leben oder zu arbeiten, während man weiterhin Einkommen (Gehalt, Honorar, Pension oder Rente) aus einer Region mit höheren Lebenshaltungskosten bezieht. Besonders digitale Nomaden nutzen mit Geo-Arbitrage weltweit unterschiedliche Lohnniveaus und Lebenshaltungskosten aus.

Welches Einkommen gewährleistet nun in Ungarn ein auskömmliches Leben? Zum Vergleich sei das durchschnittliche Einkommen eines einheimischen Arbeitnehmers herangezogen. Das nationale Statistikamt (KSH) ermittelte einen durchschnittlichen Monatslohn von 621.000 ungarischen Forint brutto. Umgerechnet sind das rund 1.550 Euro (Stand 20.10.2024). Deutlich über dem Durchschnitt lagen nur die Gehälter in der Hauptstadt Budapest, erheblich darunter in den Regionen der Puszta. Von diesen 1.550 Euro ist die 15-prozentige, als Flat Tax konzipierte Einkommensteuer abzuziehen, so dass netto 1.317,50 Euro übrigbleiben. Darüber hinaus schlägt der Sozialversicherungsbeitrag von 18,5 Prozent zu Buche. Als Mindestlohn werden rund 700 Euro brutto bezahlt. Berater gehen davon aus, dass man mit einer Rente von 1.000 Euro im Monat in Ungarn gut leben könne. So ist die Nutzung des ÖPNV einschließlich Busse, Straßenbahnen, U-Bahnen und Nahverkehrszüge ab einem Alter von 65 Jahren kostenlos. Und zwar unabhängig von der Staatsangehörigkeit für alle, die ihr Alter (bei einer etwaigen Kontrolle) mit einem Personalausweis oder Reisepass nachweisen können. Verlässliche Aussagen zu den Mietkosten sind schwierig. Teilnehmer eines Treffens der »Deutschsprachigen Gemeinschaft in Ungarn« (DG) bezifferten die Kaltmiete für ihre 120-Quadratmeter-Wohnung unweit des Balatons (Plattensee) auf 500 Euro². Ein Rentner berichtete, für eine – ungarischen Standards entsprechende – Zweizimmerwohnung 220 Euro² im Monat zu überweisen. Unterschiedliche Berechnungen kommen auf rund 480 Euro² Lebenshaltungskosten (ohne Miete) für eine alleinstehende Person. Spürbar angestiegen sind in letzter Zeit inflationsbedingt die Lebensmittelpreise. Einkäufe bei Discountern wie Aldi, Lidl, Penny oder Spar, die sich in jedem größeren Ort befinden, sind fast ähnlich hoch wie in Deutschland. Viele Lebensmittel werden importiert. Gegenwärtig ist der typische Einkauf von Waren des täglichen Bedarfs im ungarischen Supermarkt noch zehn Prozent günstiger als in Deutschland. Ein wesentlich geringeres Preisniveau findet man auf dem Bauern- oder Wochenmarkt (Heti Piac), die es in fast jedem Dorf gibt. An Lebensmitteln wird angeboten, was die heimische Scholle hergibt. Da fast jeder Hausbesitzer über einen Garten verfügt, sind dies vor allem Obst und Gemüse. Auch Gaststätten und Restaurants bieten im Vergleich zu Deutschland noch preiswerte Speisen an (zumindest außerhalb der Touristenhochburgen oder außerhalb der Urlaubssaison). Das Glas Bier kostet weniger als drei Euro, eine üppige Hauptspeise wird für rund zehn Euro serviert.

Die einzig größere, aber dennoch zu überwindende Hürde stellt die schwierige ungarische Sprache dar. Bis vor 20, 30 Jahre war Deutsch die wichtigste Fremdsprache. Inzwischen lernen zumindest die Jungen mehr Englisch als Deutsch an den Schulen. Dennoch findet sich bei fast jeder Gelegenheit, ob im Supermarkt, auf dem Markt, in der Apotheke, im Bus, im Restaurant usw. jemand, der Deutsch kann und hilfsbereit übersetzt. Dennoch ist es eine Frage des Respekts, seine ungarischen Mitbürger in ihrer Muttersprache anzusprechen. Auch wenn das Ungarische als finno-ugrische Sprache keinen Bezug zu einer europäischen Sprache aufweist, weder zum Romanischen noch zum Slawischen oder Germanischen.

Der tatsächlich größte Wermutstropfen in Ungarn, der jedem Exilanten sauer aufstoßen kann, ist der Zustand des Gesundheitswesens. Es ist der Grund, weshalb deutsche Auswanderer in höherem oder hohem Alter ihr Exil wieder verlassen. Jedenfalls war dies bislang so. Zwar praktiziert in jedem Dorf ein Arzt – mit sehr unterschiedlichen Ausbildungsschwerpunkten. Dass es sich dabei um einen Allgemeinmediziner handelt, ist nicht garantiert. Häufig sind es Fachärzte, die zwar Rezepte verschreiben können, mehr aber auch nicht. Unbefriedigend sind die Bedingungen in den öffentlichen Krankenhäusern. Zwar beträgt der staatliche Krankenkassenbeitrag umgerechnet lediglich etwa 20 Euro im Monat. Entsprechend sind aber auch die Leistungen. Dafür bekommt man weder ein Einzel- noch ein Doppelzimmer. Mehrbettzimmer sind der Standard. Darüber hinaus wird Patienten empfohlen, die wichtigsten Ge- und Verbrauchsgegenstände für einen Krankenhausaufenthalt wie Geschirr (Teller, Glas, Tasse, Besteck), Mineralwasser, Handtücher und Waschlappen, Toilettenpapier usw. vorsorglich selbst mitzubringen.

Politisches Exil als Aus- oder Irrweg?

Die Übersiedlung nach Ungarn oder ein anderes Ausweichland ist zunächst eine privat-persönliche Entscheidung, sie ist aber auch ein politisches Statement. Und zwar kein besonders freundliches gegenüber den Zuständen in der alten Heimat. Ob Auswandern eine Alternative ist – oder doch nur eine Zwischenlösung, muss jeder selbst entscheiden. Doch die Frage nach dem Exil hat mehrere Dimensionen. Einerseits eine des Auslösers, des Beweggrunds: privat-persönlich, politisch – oder beides? Sowie eine zeitliche: Dauerhaft oder vorübergehend? Und: Was lässt sich politisch im Exil erreichen? Was für jeden Politiker gilt, das muss sich auch jeder Emigrant bzw. politische Exilant selbst fragen und fragen lassen: Geht es mir nur um meine eigenen egoistischen Interessen oder auch um mein Herkunftsland und mein Volk? Was bin ich bereit, aus der (sicheren) Ferne dafür zu tun, zu wagen? Es ist die alte JFK-Aufforderung: »Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann – fragt, was ihr für euer Land tun könnt.«

Weitere Beiträge zu den Themen Auswandern, Exil und Ungarn (sowie ähnliche Ausweichländer) sind in Vorbereitung und werden folgen.

¹Stützpunkte der »Deutschsprachigen Gemeinschaft in Ungarn« gibt es in Baja, Balatonlelle, Balatonfenyves, Böhönye, Budapest, Cserszegtomaj, Esztergályhorváti, Gyékényes, Hévíz, Keszthely, Marcali, Nagykanizsa, Pamuk, Sármellék, Siófok, Sopron, Szakmár, Szentgotthárd, Szőkedencs, Vasvár, Veszprém, Zalabér, Zalaegerszeg, Zalakaros. © Foto DG: Ignaz Bearth, 17.10.2024.
²Stand Herbst 2024.

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